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Musikalische Symbolik in Olivier Messiaens Weihnachtsvignetten


INHALT
Vorwort   5

I Einleitung 13
  Der Komponist und sein Werk 13
  Messiaens theologische und künstlerische Quellen 17
  Die Komponenten der musikalischen Sprache Messiaens 18
  Die Vingt regards sur l'Enfant-Jésus: ein kurzer Überblick über das musikalische Material 29

II Die Exposition der zentralen Symbole 35
  Die Liebe Gottes (I) 36
  Der Stern von Bethlehem (II) 43
  Die Dualität der Natur Christi (III) 50
  Die jungfräuliche Mutter (IV) 59
  Der Gekreuzigte und das fleischgewordene Wort (V) 69
  Die religiöse Aussage der fünfteiligen "Exposition" 82

III Die Durchführung und Verarbeitung der Symbole des Göttlichen 87
  Das Christuskind als Gottessohn: Die Verkündigung, das süße Christkind und der
noch im Schlaf wachende Jesusknabe (XI, XV, XIX)
88
  Jesus als Menschensohn: Von Bethlehem nach Golgatha (VII) 108
  Das Unsagbare (XVII) 118
  Zeit und Ewigkeit (IX) 128
  Die geweihte Nacht (XIII) 138
  Die religiöse Aussage der "Durchführungs"-Stücke 146

IV Kontrast: Freude, Anbetung und Verheißung 151
  Das Hosianna in der Höhe und der Freudentaumel des Geistes (VIII, X) 153
  Das ehrfurchtgebietende allmächtige Wort und die Sicht der Engel (XII, XIV) 177
  Die Anbetung an der Krippe und die furchtbare Salbung (XVI, XVIII) 196
  Die religiöse Aussage der "Kontrast"-Stücke 214

V Alpha und Omega: Die großen Synthesen 215
  Die Schöpfung der Welt (VI) 215
  Die Zukunft der Kirche (XX) 236
  Die religiöse Aussage der "Synthesen" 248

Bibliographie (Auswahl)   251
Index der im Text erwähnten regards   253



VORWORT

Seit dem Beginn geistlicher Musik der christlichen Tradition haben Komponisten musikalische Symbole erfunden und verwendet, um transzendente Gehalte auszudrücken. Besonders seit dem Höhepunkt rhetorischer Figurensprache im 16. Jahrhundert sind wir vertraut mit der Paarung von musikalischen Strukturelementen und christlichen Begriffen. Dies betrifft den Gebrauch bestimmter Tonarten und Modi ebenso wie die Wahl besonderer Intervalle, die als mit religiösen Inhalten verknüpft empfunden wurden (von der Chromatik der Lamentationen über menschliche Sündhaftigkeit zur Darstellung der Vollkommenheit Gottes im vollkommenen Intervall der Oktave); es ist aber auch nachweisbar für die Gestaltung melodischer Linienführung zur Nachbildung visueller Symbole (siehe z.B. die kreuzweise Anordnung der Noten in Motiven und Themen und die in ihnen heraufbeschworene Erinnerung an Golgatha), und nicht zuletzt für die Umsetzung zentraler christlicher Begriffe in ihr numerologisches Äquivalent und dessen Manifestation in Form rhythmischer, metrischer oder sonst zählbarer Einheiten. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt im sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert, als eine bereits sehr ausgeprägte musikalische Rhetorik mit einem erhöhten Bedürfnis nach mystischem Ausdruck zusammentraf.

Olivier Messiaen nimmt in dieser Tradition einen besonderen Platz ein. Einerseits steht er, mit mehr als vierzigjähriger Tätigkeit als Organist an der Kirche La Trinité in Paris, unmittelbar in einer Ahnenreihe, die über Bach und César Franck bis in unsere Zeit reicht und ihm in den 1920er Jahren während seiner Studien am Pariser Conservatoire de Musique äußerst glaubwürdig vermittelt wurde. Andererseits ist er vermutlich einzigartig unter Komponisten hinsichtlich des Umfangs und der Intensität seiner theologischen Studien. Seine Bibliothek beherbergte eine imponierende Sammlung christlicher Primär- und Sekundärliteratur; er las die spanischen, französischen und irischen Mystiker und war ein von Priestern und Theologen seiner Zeit gesuchter Diskussionspartner. Nach eigener Aussage (vgl. sein Traktat "La technique de mon langage musical") verstand Messiaen sein kompositorisches Schaffen als einen "Akt des Glaubens"; er strebte vor allem danach, "mit dauernder Kraft dem Kampf unseres Dunkels mit dem Heiligen Geist Ausdruck zu verleihen", und entwickelt zu diesem Zweck eine ganz eigene musikalische Sprache, gekennzeichnet durch eine Fülle symbolisch verstandener Komponenten. Wie er in jedem Interview wiederholte, gliedert sich seine Thematik in drei eng verwandte Bereiche: Gottes allumfassende, unfaßbare Liebe; menschliche Liebe, exemplifiziert in der Tristan-Sage als unvollständiges Abbild göttlicher Liebe; und Vogelstimmen als ideale Manifestation von Gottes Immanenz in der Natur.

Messiaens 130-minütiger Klavierzyklus Vingt regards sur l'Enfant-Jésus von 1944 evoziert, mit der Verwendung des Wortes "Blicke", so etwas wie Vignetten um die Weihnachtskrippe. Zwanzig Szenen porträtieren verschiedene Arten, auf das Jesuskind und das, was das Ereignis dieser Geburt symbolisiert, zu schauen. Das Spektrum reicht von Blicken real vorstellbarer Personen (vgl. "Blick der Jungfrau", "Blick der Propheten, Hirten und Weisen" etc.) über die Blicke (Gott-)Vaters und des "Geistes der Freude" bis hin zu Blicken von, in Messiaens Worten, "immateriellen und symbolischen Kreaturen" (vgl. "Blick der Zeit", "Blick des Schweigens" und gar "Blick der furchtbaren Salbung").

Wie in fast allen seinen Kompositionen gibt Messiaen jedem der zwanzig Stücke nicht nur Titel, sondern zusätzlich ausführliche Titelunterbemerkungen, in denen er in oft mystischer Sprache den tieferen spirituellen Gehalt dessen auslotet, was sich für ihn mit dem im Titel angesprochenen Aspekt verbindet. Komplementiert zudem von den in seinem Vorwort, "Note d'auteur", enthaltenen Kommentaren stellen diese Titelunterbemerkungen Beziehungen her nicht nur zu Messiaens bevorzugten Mystikern Juan de la Cruz (Johannes vom Kreuz) und Thérèse de Lisieux, sondern darüber hinaus zu Gemälden, Radierungen und Goblins, die den Komponisten inspiriert und seine Assoziationen beeinflußt haben.

Die vorliegende Arbeit unternimmt eine detaillierte hermeneutisch-analytische Untersuchung der Vingt regards mit dem Ziel, eine stimmige Beziehung zwischen den Strukturelementen der musikalischen Sprache Messiaens und der jeweils verbal angesprochenen theologischen Bedeutungsdimension aufzuzeigen. Schwerpunkthaft behandelt wird dabei auch die Frage, in welcher Weise und in welchem Ausmaß die aus der Sicht der Begleittexte resultierende Ausdeutung der Musik ihrerseits das Verständnis des im Wortlaut mehr intuitiv insinuierten Inhalts nach Art des Gadamer'schen hermeneutischen Zirkels verstärkt.

* * *

Viele Berater und Freunde haben indirekt an der Entstehung dieser Arbeit teilgehabt. Ihnen allen sei hier mein herzlichster Dank ausgesprochen; ich fühle mich getragen und beflügelt von der Begeisterung und dem stets verläßlichen Verständnis, das mich in den Jahren der Arbeit an Messiaens Zyklus getragen hat. An dieser Stelle gilt mein besonderer Dank Herrn Professor Dr. Gottfried Scholz, der mich seit seiner Betreuung meiner Doktorarbeit vor 12 Jahren stets kollegial unterstützt hat und mir erlaubt, ihn heute unter meine langjährigen Freunde zu zählen; Herrn Dr. Gerold Gruber, dessen äußerst gründliche und freundschaftliche Beratung die gesamte Zeit meiner Verbindung zum Insitut für Musikanalytik der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien so fruchtbar und intellektuell befriedigend gemacht hat; und dem Verlag Peter Lang, der hiermit nun schon das dritte Buch aus meiner Feder (zugegeben: das erste deutschsprachige aus meinem Computer!) herausgibt.

Vorabdrucke zu Einzelanalysen und -interpretationen der Vingt regards erschienen in der Zeitschrift 20th-Century Music und wurden auf verschiedenen musikwissenschaftlichen Kongressen gelesen. Die dem jeweiligen Vortrag folgenden Diskussionen haben mein Verständnis für Einzelfragen oft erweitert. Zudem finden sich die dieser Untersuchung zugrundeliegenden Analysen in kürzerer Form und innerhalb eines anderen Bezugsrahmens in meiner englischsprachigen Monographie über musikalische "Bildgedichte", Images and Ideas in Modern French Piano Music (Pendragon Press, 1997).