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Kunst als politische Provokation:
Der Kaiser von Atlantis in Terezín
Siglind Bruhn
(Erschienen in Kunstpunkt Nr.
14/1997, Wien. Abgedruckt mit freundlicher Erlaubnis der Herausgeber)
Es gibt in der Geschichte des politisch
stellungnehmenden künstlerischen Schaffens wohl kaum eine
bedeutendere Zeit als die vier Jahre intensiver kreativer
Aktivität im Konzentrationslager Terezín (Theresienstadt).
Die kleine Garnisonsstadt in Nordböhmen war im Herbst 1941 von den
Nazis dazu ausersehen worden, sowohl als Durchgangslager für Juden
aus Mitteleuropa zu dienen (von denen viele nur allzu bald die
Weiterfahrt nach Ausschwitz und seine Gaskammern antraten), als auch
als sogenanntes Musterghetto die Skepsis ausländischer Beobachter
zu beschwichtigen und die Aufmerksamkeit von der Realität der mit
der "Endlösung" verbundenen Greuel abzulenken. Der Versuch gelang
sogar zum Teil: im Bestreben, die Aliierten über die wahren
Verhältnisse, unter denen Insassen der verschiedenen
Konzentrationslager zu leben hatten, hinwegzutäuschen, gestatteten
die Nazis den Juden in Terezín einen gewissen Anteil an
vorgeblicher Selbstverwaltung. Besonders das Vorbereiten und Abhalten
hochkarätiger kultureller Veranstaltungen wurde ausdrücklich
ermutigt, und Inhaftierte, die zu Konzerten, Theateraufführungen
oder Vorlesungsreihen erfolgreich beizutragen vermochten, waren von der
sonst in Lagern üblichen körperlichen Arbeit befreit. (Dies
stellte allerdings wohl ihre einzige Vergünstigung dar; die
Nahrungsversorgung und Gesundheitsfürsorge scheint sich, wenn
überhaupt, nur unwesentlich von dem in anderen Lagern
üblichen Minimalstandard abgehoben zu haben.)
Im September 1942 wurde die Stelle des
"Direktors für musikalische Freizeitgestaltung" mit einem neuen
Insassen besetzt: dem Komponisten Viktor Ullmann. Ullmann, 1898 in
Teschen in der Nähe von Prag geboren, war später für
einige Semester Kompositionsschüler Schönbergs in Wien
gewesen. Schönberg achtete diesen Schüler genug, um ihn an
seinen Schwager Alexander von Zemlinski weiterzuempfehlen, und so wurde
Ullmann für die Jahre 1921-1927 Kapellmeister am Neuen Deutschen
Theater in Prag, dessen musikalische Leitung damals Zemlinsky
innehatte. 1929-31 folgte eine Anstellung als Kapellmeister und
Komponist für Zwischenaktmusiken am Züricher Schauspielhaus.
Später kehrte er nach Prag zurück, wo er sich, besonders nach
1933 immer mehr beruflich behindert, als Privatlehrer und Musikkritiker
durchschlug.
Während all dieser Jahre hatte Ullmann
eine große Anzahl von Kompositionen geschrieben, die, laut
damaligen Konzertkritiken, mit viel Erfolg aufgeführt wurden.
Zweimal wurde ihm der Hertzka-Preis verliehen: 1934 für die
Orchesterfassung seiner Schönberg-Variationen (5 Variationen,
Fantasie und Doppelfuge über ein Klavierstück von
Schönberg), 1936 für sein Oper Der Sturz des Antichrist.
Zum Schönbergkreis erhielt er gute Kontakte aufrecht, schreib u.a.
Artikel über zeitgenössische Musik für den Auftakt
und andere deutschsprachige Zeitschriften, und bewunderte vor allem die
"romantische Atonalität" Alban Bergs.
Ironischerweise ermöglichte die
Bestallung in Terezín Ullmann, sich zum ersten Mal in seinem
Leben fast ausschließlich dem Komponieren zu widmen. In seinen
zwei Ghetto-Jahren entstanden denn auch fast ebensoviele Werke wie in
den gut zwanzig Jahren beruflicher Tätigkeit vorher: siebzehn
größere Kompositionen, darunter drei Klaviersonaten, ein
Streichquartett, Liedzyklen, Orchesterwerke, Chorwerke sowie eine Oper.
(Einen ähnlichen Aufschwung nahm auch das kompositorische Schaffen
anderer in Terezín inhaftierter Komponisten, unter denen Pavel
Haas, Hans Krása und Gideon Klein die wohl bedeutendsten waren.)
Ullmanns Tagebuchaufzeichnungen, unter dem Titel Der fremde
Passagier zusammengefaßte Prosastücke und Gedichte,
legen beredtes Zeugnis davon ab, daß er in dieser Zeit innerlich
wuchs, mehr und mehr von der Unzerstörbarkeit des menschlichen
Geistes durchdrungen war und fest an die regenerative Rolle der Kunst
innerhalb der bedrückenden Lebensumstände des Ghettos glaubte.
Im Winter 1943/44 entstand die Oper, die
heute unter dem Titel Der Kaiser von Atlantis bekannt ist, aber
auch als Der Tod dankt ab und Die Todesverweigerung
bezeichnet wurde und in einer der Handschriften den Untertitel "Legende
in vier Bildern" trägt. Von Musikhistorikern, die sich - in den
letzten fünf Jahren mit wachsender Intensität - um Ullmanns
Werk im allgemeinen und diese Oper im besonderen bemühen, erfahren
wir über die frühe Rezeptionsgeschichte des Werkes nur die
spärlichen Fakten: sie wurde vom Ensemble der Ghettostadt geprobt,
kam wohl auch zur Generalprobe oder zumindest einer sehr
fortgeschrittenen Hauptprobe, jedoch wurde die Uraufführung
schließlich doch untersagt. Kurz darauf (genauer: am 16. Oktober
1944) wurde Ullmann nach Auschwitz deportiert, wo er am 18. Oktober in
den Gaskammern ermordet wurde. Vor dem Abtransport gab Ullmann seinem
Mithäftling Utitz sämtliche im Lager entstandenen
Kompositionen, darunter auch das Autograph der Oper, dessen zahlreiche
Striche und teils geschwärzte Textvarianten sich so drastisch von
seinen anderen Handschriften unterscheiden, daß man vermuten
muß, politische mehr als künstlerische Bedenken haben zu
Korrekturen dieses Ausmaßes geführt. Zusammen mit einer
handschriftlichen und einer maschinenschriftlichen Fassung des
Textbuches entgingen so die wichtigsten schriftlichen Unterlagen dieses
Werkes der Vernichtung; sie sind heute im Archiv des Goetheanums in
Dornach/Schweiz aufbewahrt, dem Ullmann als überzeugter
Anthroposoph nahestand.
Soweit die relativ gesicherten "Fakten". Was
hinter ihnen steht - an menschlichem Drama, Selbstzensur und
Einschüchterung, Mut gegen jede Hoffnung und innere
Größe als Provokation der Einschüchterer - das
läßt sich nicht dokumentarisch erforschen, wohl aber
dichterisch nacherleben. Genau dies hat kürzlich in
äußerst bewegender Weise Frido Mann in seinem Roman Terezín,
oder Der Führer schenkt den Juden eine Stadt getan. Erst in
der uns dank dieses Dichtwerkes möglichen Kombination von
Handlungsablauf innerhalb der Oper und Handlungsablauf im Verlauf der
Probewochen im Ghetto wird die volle Tragweite der versuchten
Wahrheitsaufzeigung voll evident.
Frido Mann, ein Enkel Thomas Manns,
studierte selbst Musik in Zürich und Rom, außerdem
Theologie, Psychologie und Medizin in München und
Münster/Westphalen, und ist heute als Professor für
medizinische Psychologie an der Universität Münster
tätig; darüberhinaus ist er Gastdozent an der
Karls-Universität Prag. 1985 trat er schriftstellerisch mit seinem
autobiographischen Roman Professor Parsifal an die
Öffentlichkeit, 1992 folgte Der Infant. Eine Verbindung
seines schriftstellerischen mit seinem humanistischen Einsatz belegt
vor allem auch seine Mitherausgeberschaft an einem Band mit dem Titel "Fliege
nicht eher als bis dir Federn gewachsen sind. Gedanken, Texte und
Bilder krebskranker Kinder". 1994 erhielt er für Terezín,
oder Der Führer schenkt den Juden eine Stadt den
Literaturpreis der Stadt Zürich.
Das Buch ist dem Textdichter, der im Ghetto
auch selbst Regie führte, und seiner Truppe gewidmet: "Petr Kien
und seinen Mitstreitern"; der Name Ullmanns erscheint nirgends, und
auch der Name der Stadt, im (an einen Rot-Kreuz-Bericht Hitlers
angelehnten) Titel so prominent und unmißverständlich
genannt, wird innerhalb der Erzählung vollkommen ausgespart. In
seiner Danksagung im Nachwort schreibt Frido Mann hierzu: "Obwohl der
Schauplatz dieses Buches viele an einen bekannten Ort erinnern wird,
bestand niemals die Absicht einer vollständigen Wiedergabe der
historischen Wirklichkeit. Der vorliegende Bericht beruht zwar auf der
wahren Begebenheit, daß in dem betreffenden Ghetto eine Oper
(Libretto Petr Kien) komponiert und bis zur Generalprobe einstudiert,
aber dort nie aufgeführt wurde. [...] Trotzdem wurde die
Realität von damals bewußt verändert, um tiefere
Zusammenhänge aufzuzeigen."
Es handelt sich in diesem Buch, wie Mann
selbst in seiner Einleitung schreibt, um eine Parabel - eine Form, die
besonders angemessen erscheint, wenn man weiß, daß Petr
Kiens Libretto als Allegorie entworfen ist. Manns literarisches
Nacherleben ist so ein Nachempfinden sowohl des Inhaltes als auch der
Form, und der Leser gewinnt wie der Hörer der Oper das
Gefühl, daß die Andeutung mehr erschüttert und
aufrüttelt, als es eine detail- und faktengetreue Beschreibung je
könnte.
Die Oper mit den verschiedenen Titeln ist
bei Frido Mann nur ganz generisch "das Festspielstück", in
Vorbereitung für den Besuch einer ausländischen Delegation,
von den Machthabern als ein weiterer glanzvoller Augenwischer gedacht.
Der Dichter und Regisseur hat keinen Namen; er ist nur als Pierrot
bekannt. Dagegen lernen wir den Hauptdarsteller umso besser kennen. Er
ist der Darsteller des Todes; der, der in Ullmanns Oper dem
egomanischen Kaiser, für dessen Ruhm und zukünftige
Größe er im "Krieg aller gegen alle" in der ersten Reihe
marschieren soll, den Dienst versagt. In Manns Parabel ist es gerade
dieser abdankende Tod, der den menschlichsten Zugang zum Geschehen
ermöglicht. Das ist zwar historisch korrekt dadurch bedingt,
daß der Darsteller des Todes tatsächlich der Einzige des
Terezíner Opernensembles war, der überlebte und damit dem
Dichter als Zeitzeuge dienen konnte (Frido Manns Nachwort weist
ausdrücklich darauf hin, daß sich dieser Zeuge nicht, wie
man sonst vielleicht vermuten möchte, dichterischer Freiheit
verdanke). Über das derart Belegbare hinaus liegt in der Tatsache,
daß es eben dieser Paavo Krohnen ist, der sich Jahrzehnte nach
Kriegsende nur mühsam und stockend daran erinnern mag, wie er sich
in die Rolle des abdankenden Todes eingearbeitet hat, aber auch eine
weitere, tiefe Wahrheit: auch in Petr Kiens Libretto ist es ja der Tod,
der die tieferen Dimensionen des Widerstreites von innerer Kraft und
äußerer Macht aufzeigt.
Daß der Name der Ghettostadt -
Terezín oder, im deutschen Sprachraum, Theresienstadt - im
Haupttext des Buches nie vorkommt, unterstreicht den intendierten
Charakter der "Parabel". Wenn der Ich-Erzähler anfangs noch von
seiner Busfahrt ins "ehemalige Ghetto" berichtet, so nennt doch sowohl
Paavo Krohnen in seiner direkten Rede als auch der kommentierende
Interviewer später stets nur den Spitznamen des Lagers, "Als ob."
Diese Bezeichnung geht laut Frido Mann auf ein Spottgedicht von Leo
Strauss zurück, der reimte:
Ich kenn ein kleines St ädtchen
Ein Städtchen ganz tiptop,
Ich nenn es nicht beim Namen,
Ich nenns die Stadt Als-ob.
Nicht alle Leute dürfen
In diese Stadt hinein,
Es müssen Auserwählte
Der Als-ob-Rasse sein.
Die leben dort ihr Leben,
Als obs ein Leben wär,
Und freun sich mit Gerüchten,
Als obs die Wahrheit wär.
Die Menschen auf den Straßen,
Die laufen im Galopp -
Wenn man auch nichts zu tun hat,
Tut man doch so als ob.
Es gibt auch ein Kaffeehaus
Gleich dem Café de l'Europe,
Und bei Musikbegleitung,
Fühlt man sich dort als ob.
Und mancher ist mit manchem
Auch manchmal ziemlich grob -
Daheim war er kein Großer,
Hier macht er so als ob.
Des Morgens und des Abends
Trinkt man Als-ob-Kaffee,
Am Samstag, ja am Samstag,
Da gibts Als-ob-Haché.
Man stellt sich an um Suppe,
Als ob da etwas drin,
Und man genießt die Dorsche
Als Als-ob-Vitamin.
Man legt sich auf den Boden,
Als ob das wär ein Bett,
Und denkt an seine Lieben,
Als ob man Nachricht hätt.
Man trägt das schwere Schicksal,
Als ob es nicht so schwer,
Und spricht von schöner Zukunft,
Als obs schon morgen wär.
Frido Manns Parabel erzählt die
Geschichte der Einstudierung eines im Ghetto verfaßten
Bühnenstückes, welches die dortigen Verhältnisse in
symbolischer Schärfe nachzeichnet. Es handelt vom Entschluß
des Todes, aus seinem Amt abzudanken, wodurch die Menschen unsterblich
gemacht und in einen unerträglichen Schwebezustand zwischen Licht
und Finsternis versetzt werden. In Ullmanns und Kiens Oper Der
Kaiser von Atlantis werden die Figuren des Todes und des Harlekins
(= das Leben), des Lautsprechers (ein unberührter Kommentator) und
des Trommlers (die ironisch verfremdete Stimme der Macht), des Soldaten
und seines Mädchens "Bubikopf" sowie des "Kaiser Overall" zu
Trägern der Handlung. Leben und Tod haben jede wahre Bedeutung
verloren in dieser Welt: Harlekin beklagt sich über die
Sinnlosigkeit seines Daseins, und der Tod verweigert den Menschen den
Dienst, als er erführt, da ß der mordwütige Kaiser ihn
als primären Komplizen einplant. Der Kaiser (musikalisch mit einer
phrygischen Verballhornung der deutschen Nationalhymne eingeführt)
führt seinen "Krieg aller gegen alle" aus dem Regierungsbunker,
den er nicht mehr verläßt, per Telefon. So erfährt er
schließlich, daß eine mysteriöse Epidemie ausgebrochen
ist: niemand kann mehr den Tod finden, weder die Schwerkranken noch die
vielen im Kampf tödlich Verwundeten; sie "ringen mit dem Leben und
können nicht sterben", wie es in Umkehrung der geläufigeren
Wendung heißt. Der Kaiser ist entsetzt, nutzt jedoch die
unbegreifliche Situation zu seinen Gunsten, indem er flugs Plakate
drucken läßt, die "seinen treuen Untertanen" als besondere
Gnade seiner kaiserlichen Gunst die Unsterblichkeit verspricht. Doch
Dankbarkeit bleibt aus; stattdessen herrscht bald Chaos: weder die
Schmerzzerrissenen selbst noch ihre Ärzte, die in tiefster
Verzweiflung und Hilflosigkeit ihren Dienst desertieren, können
mit der Unfähigkeit zu sterben fertigwerden. Meuterei bricht aus
und Aufstand gegen den Kaiser, nachdem die Menschen zum erstenmal
begreifen, daß sie wirklich gar nichts mehr zu verlieren zu
haben. So kehrt die Verweigerung dessen, was normalerweise am meisten
gefürchtet wird - der eigene Tod - alle Werte um.
Auch in Frido Manns "Als-ob"-Parabel
empfinden sich die Insassen des Ghettos nicht zuletzt deswegen aller
Würde beraubt, weil der Tod nicht mehr als das erscheint, was er
einst bedeutete: als der große, würdige Gegenspieler zum
heißgeliebten Leben. Im Gegenteil: das Leben scheint in vieler
Hinsicht wie tot, und der Tod wird empfunden als das, was das wirkliche
Leben erst wieder in den Blick bringt. Unter Überwindung unendlich
vieler alltäglicher Hinder nisse von seiten sowohl der
Machthabenden des Konzentrationslagers als auch ihrer
Marionetten-Selbstverwaltung probt das Theaterensemble von Als-ob das
"Festspielstück". Da die Proben im Freien stattfinden, ist schon
in der Vorbereitungsphase stets nicht nur mit der Reaktion der
"Goliaths", sondern auch mit der der übrigen Insassen zu rechnen.
Dank hochkomplizierter Arrangements, in der Pierrot durch das
Aufeinanderfolgen unzusammengehöriger Fetzen einzelner Szenen die
Zuschauer im Unklaren zu halten versucht �ber den explosiven
Aussagegehalt seiner Dichtung, gelingt es dem Ensemble, immer noch
einmal Zeit zu erkaufen und das von den meisten als unabwendbar erahnte
Aufführungsverbot hinauszuzögern. So kommt es
schließlich zur Generalprobe auf dem Hauptplatz. Die
Ghettobewohnerschaft ist in großen Scharen erschienen, die sonst
allgegenwärtigen Lautsprecher der Machthabenden sind
plötzlich verhängnisvoll stumm, und das Bühnengeschehen
nimmt zun„chst ungehindert seinen Lauf. Erst jetzt, im Zusammenhang,
wird den Zuschauern die Symbolik des Stückes und der Bezug zu
ihrer wahren Situation voll klar: das Leben hat seinen Sinn verloren,
weil der Tod, der "sanfte Gärtner", seine Sense an den Haken
gehängt hat. Ein Aufruhr bricht aus; dieser wird niedergeschlagen,
das Probenensemble deportiert und (fast) vollzählig liquidiert.
Jahrzehnte später, so steht es sowohl
bei Frido Mann als auch im Vorwort des heute bei Schott verlegten
Klavierauszuges, findet sich auf abenteuerliche Weise das Manuskript
des Stückes und mit ihm der einzige überlebende des
Ensembles, jener in Manns Version als Paavo Krohnen eingeführte
Mann, der den abdankenden Tod spielte. In der Ergänzung von
Manuskript und Erinnerung des Zeitzeugen wird es möglich, das
damalige Geschehen zu rekonstruieren. Die so aufscheinende Geschichte
gibt Zeugnis ab vom Kampf der menschlichen Akteure gegen die
Vergewaltigung ihrer Würde durch die Herrschaft der Lüge.
Frido Manns Erzählweise läßt
den erschütterten Leser teilnehmen am ständigen
wechselseitgen Übergang von Wirklichkeit und deren Wiedergabe in
spielerischer Form. "Über Analogien zwischen gestern und heute,"
so der Erzähler, soll "die potentielle Omnipräsenz der
angeprangerten Verbrechen" vor Augen geführt werden. "Hauptabsicht
dieser mehrfachen Parabel ist es, den Mut und den Willen zur Erinnerung
zu wecken, die immer auch ein Bekenntnis zur Mitverantwortung
miteinschließt und damit vorbeugende Erinnerung ist."
In der Parabel ist der abschließende
Akt des Stückes bis zum Schluß unklar. Pierrot hat mehrere
Fassungen geschrieben und wieder verworfen - teils, weil sie in
Hinsicht auf die "Goliaths" zu gefährlich erscheinen, teils, weil
sie in Hinsicht auf die Aussageintention zu zahm ausgefallen sind. Auch
die Oper, wie sie uns heute vorliegt, hat mehrere Schlüsse. Beide
werden dadurch eingeleitet, daß der Tod aus Mitleid mit den
Menschen bereit ist, seiner Bestimmung wieder nachzukommen. Er
erscheint dem Kaiser im Spiegel und bietet seine Rückkehr an unter
der Bedingung, daß der Kaiser der erste sein wird, der diesen
"neuen Tod" stirbt. Diese Arie des Todes gehört musikalisch wie
auch dichterisch zum Schönsten der Oper:
Ich bin der Tod, der Gärtner Tod, und säe Schlaf in
schmerzgepflügte Spuren.
Ich bin der Tod, der Gärtner Tod, und jäte welkes Unkraut
müder Kreaturen.
Ich bin der Tod, der Gärtner Tod, und mähe reifes Korn des
Leidens auf den Fluren.
Bin der, der von der Pest befreit, und nicht die Pest.
Bin, der Erlösung bringt vom Leid, nicht, der euch leiden
läßt.
Ich bin das wohlig warme Nest, wohin das angstgehetzte Leben flieht.
Ich bin das größte Freiheitsfest. Ich bin das letzte
Schlummerlied.
Still ist und friedevoll mein gastlich Haus! Kommt, ruhet aus!
Nach anfänglicher Auflehnung gegen
dieses Ansinnen, sich für seine Untertanen, die solches seiner
Meinung nach nicht verdienen, zu opfern, willigt Overall
schließlich ein in der Erkenntnis, daß diese Lösung
die einzige Hoffnung für die Menschheit insgesamt bedeutet. In der
häufiger gewählten Fassung der Schlußarie nimmt er
Abschied vom Leben mit einem Rest ungebrochener Überheblichkeit
("doch leise ist in mir noch Hoffnung später Wiederkehr"); seine
letzten Worte sollten wohl kompromißhaft verstanden werden: von
den Machthabern als des Kaisers Versuch, seine Überlegenheit zu
wahren, von den Ghettobewohnern jedoch als Zuspruch und Erinnerung an
ihre unsterbliche innere Kraft: "Denn es ist das Ferne nicht
beklagenswert, vielmehr das Nahe, das in ewigem Schatten ruht." Die
alternative Fassung allerdings klingt ganz anders aus. Hier spricht
weniger Hoffnung als tiefe Verzweiflung darüber, daß die
Menschheit wohl doch nicht lernen wird, die Wiederholung des Grauens zu
verhindern. "Gedämpft ist nur das Feuer, nicht gelöscht! Bald
flammt es wieder hoch, von neuem rast der Mord, und ich ersehnte
Grabesruh. Oh, wär' mein Werk geglückt! (...) Ach, wären
wir verdorrt. (...) In deiner Hand liegt unser Leben, nimm's fort,
nimm's fort!"
Mit welchem Schluß das Werk in seiner
Uraufführung in Terezín hätte gekrönt sein
sollen, werden wir wohl nie erfahren. Die Schauspieler und Sänger,
zusammen mit Viktor Ullmann und Petr Kien, wurden deportiert - die
meisten von ihnen nach Auschwitz, wo sie innerhalb weniger Tage
umgebracht wurden; der "Kaiser über alles" überlebte sie noch
um ein halbes Jahr. Der Mut, die ja doch voraussehbare Reaktion der
Machthabenden als nur eine der vielen Möglichkeiten eines sicheren
Todes zu relativieren und die intendierte Aussage über die wahre
Bedeutung des Lebens mit dem Leben zu bezahlen, ist Provokation im
ursprünglichen Sinne des Wortes: Aufruf und Herausforderung
zugleich. Die befohlene "Freizeitgestaltung" wird, trotz ihrer
wohlbekannten, äußerst zynischen außenpolitischen
Bestimmung im Dienste der Machthabenden, zum Ort der Verwirklichung
einer innerlich freien Selbstbestimmung der Unterdrückten. Indem
die Möglichkeit einer Drohung mit dem Tod als Grundbaustein aller
Macht entlarvt wird, erscheinen die selbstherrlich Herrschenden in dem
Augenblick auf ihre eigentliche Machtlosigkeit gestoßen und
zutiefst gedemütigt, in dem der Tod sich mit den Untertanen
verbündet. Seine Weigerung, sein Handwerk in diesem Dienste weiter
auszuüben, und seine Selbstdefinition anläßlich seiner
mitleidsvollen Rückkehr, weisen ihn als Freund und Tröster
der Leidenden aus: als eigentlichen, im Gegensatz zum Kaiser jedoch
humanen, Herrscher über alles.
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